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Beschluss des Sozialgericht Marburg stärkt Persönliches Budget
kobinet-nachrichten I "Das lange Warten auf einen positiven Beschluss zum Persönlichen Budget des Sozialgericht Marburg hat sich gelohnt." So titeln kobinet-nachrichten über einen Beschluss des Sozialgerichts Marburg. Daran haben u.a. auch Fabian Lerbs und Volker Strümpe vom Aktion Mensch geförderten fib-Projekt Budgetbegleitung mitgewirkt. Wir dokumentieren hier das Interview.
"Es gibt nur wenige Beschlüsse / Urteile, die so ausführlich und differenziert auf Selbstbestimmung und Fachlichkeit eines komplexen Persönlichen Budgets eingehen", erklärte Volker Strümpe vom Verein zur Förderung der Inklusion behinderter Menschen (fib) Marburg. "Die Richterin Frau Kopf hat sich sehr tief in die Materie eingearbeitet und am 8. September 2023 einen Beschluss mit dem Az.: S 9 SO 27/23 ER gefasst, der auf der Höhe der Zeit ist. Bemerkenswert! Hoffentlich dient dieses Verfahren dazu, dass andere behinderte Arbeitgeber*innen mit einem Persönlichen Budget bessere Chancen bekommen", teilte Uwe Frevert vom Vorstand der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) mit. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Volker Strümpe, Fabian Lerbs und Uwe Frevert folgendes Interview zum Beschluss des Sozialgericht Marburg.
„Der Beschluss ist rechtskräftig geworden, weil der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) keine Beschwerde beim Landessozialgericht vorgetragen hat. Der LWV will sein Problem mit der selbst organisierten Assistenz im Hauptverfahren klären lassen“, betont Uwe Frevert zum Stand des Verfahrens im Vorfeld des Interviews.
kobinet-nachrichten: Während die Vergütungssätze bei Pflegediensten und in Einrichtungen in der Regel von den Kostenträgern ganz selbstverständlich gezahlt werden, werden diejenigen, die ihre Assistenz im Arbeitgebermodell über ein Persönliches Budget selbst organisieren, immer wieder mit niedrigeren Stundenlohnvergütungen gegängelt. War dies auch bei diesem Klageverfahren der Fall?
Volker Strümpe: Ja. Zunächst wurden nur 21,30 € pro Stunde und nach Einschaltung einer Rechtsanwältin 25,00 € für die Einsatzstunde, im Rahmen einer so genannten „Härtefallregelung“ vom LWV angeboten. Der LWV sagt, dass in diesen beiden Stundensätzen alle Leistungen, also auch Kosten einer Budgetbegleitung, enthalten sind. Damit können allerdings im Vergleich zu einem Sachleistungsanbieter von Assistenz weder konkurrenzfähige Löhne bezahlt noch mit dem Budget die Assistenz betriebswirtschaftlich organisiert werden.
kobinet-nachrichten: Und was ist jetzt genau bei diesem Beschluss herausgekommen?
Volker Strümpe: Wir haben zweierlei erreichen können: Zum einen werden nun 28,63 €/Stunde (dies entspricht TVöD-P, EG 5, Stufe 3) bezahlt, zum anderen kommt eine qualifizierte Budgetbegleitung mit realistischen 5 Stunden pro Woche hinzu. Dieser Bedarf wurde individuell im Gesamtplan ermittelt, das heißt, es ist ein personenbezogener Bedarf und jetzt Teil des Gesamtbudgets. So muss es auch sein. Der entscheidende Satz des Beschlusses lautet: „Wenn für professionelle Leistungserbringer (…) ausdrücklich vorgeschrieben wird, dass die Bezahlung tarifvertraglicher Entgelte nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann, darf nach Ansicht des Gerichts für Arbeitgeber*innenmodelle im Rahmen eines Persönlichen Budgets nichts Anderes gelten.“
Als drittes ist unbedingt herauszustellen, dass Teilhabeleistungen in der Regel nicht befristet werden dürfen. Der Beschluss aus Marburg wird auf Grundlage des Bundessozialgerichts-Urteils vom 28. Januar 2021 bekräftigt. Das Gericht weist darauf hin, dass eine Befristung der Leistungen nicht zulässig ist, da wesentliche Änderungen – wie hier bei der Antragstellerin mit Behinderung – nicht zu erwarten sind. Der Beschluss aus Marburg bedeutet daher auch wieder einen Paradigmenwechsel: Der Kostenträger LWV ist in Zukunft in der Bring-Schuld. Anträge müssen nicht immer wieder gestellt werden, die Leistungen können weiterlaufen, müssen aber von Seiten des Kostenträgers regelmäßig bestätigt oder angepasst werden, ohne dass sie damit grundsätzlich in Frage gestellt werden.
kobinet-nachrichten: Herr Frevert, Sie sind langjährig in Sachen Beratung zum Persönlichen Budget aktiv. Sind Sie mit dieser Entscheidung zufrieden?
Uwe Frevert: Ja sehr, die Niederlage des LWV Hessen ist nahezu umfassend. Der Bedarf an Budgetassistenz hängt zum Beispiel ganz wesentlich von den intellektuellen und auch körperlichen Fähigkeiten, wie auch möglichweise der Art der Ausbildung, der behinderten Leistungsberechtigten ab. In dem Beschluss aus Marburg wird zum Beispiel deutlich, dass dem LWV Hessen die Unterscheidungen von Lohnbüro, Budgetassistenz und der gesetzlich bestellten Betreuung nicht wirklich verständlich sind. Der LWV verwendet zum Beispiel für die Bezeichnung der behinderten Arbeitgeber*innen immer noch den Begriff „Betreuung“. Dabei haben die behinderten Arbeitgeber*innen so gut wie nie eine vom Amtsgericht bestellte gesetzliche Betreuung. Auch der vom LWV vorgetragene Gedanke, dass diese anstelle der Budgetassistenz vom Amtsgericht eingesetzt werden könne, ist absurd.
kobinet-nachrichten: Hat diese Entscheidung eine Signalwirkung auf andere behinderte Menschen, die um eine adäquate Finanzierung ihrer Assistenzleistungen im Persönlichen Budget ringen müssen?
Uwe Frevert: Ja, ganz sicher. Mit der Anerkennung des TVöD wird zum Beispiel der Urlaubsanspruch über 30 Tage gewährt, statt bisher nur 24 Tage. Weiter können Zuschläge in der Nacht und an Feiertagen sowie die tarifvertraglichen Sonderzahlungen vom LWV nicht länger verweigert werden. In dem Marburger Beschluss wurde zum Beispiel auch festgestellt, dass der LWV die Kürzung des pauschalen Pflegegeldes gemäß § 63b (5) SGB XII nicht unbegründet und ohne Ermessen vornehmen darf. Im Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Kassel haben wir im Jahr 2006 mit Auftrag des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine sehr konstruktive Musterzielvereinbarung für ein trägerübergreifendes Persönliches Budget erarbeitet.
Mit dieser Musterzielvereinbarung konnte den behinderten Arbeitgeber*innen immer ein ungekürztes Pflegegeld im Rahmen der Sozialhilfe zur Verfügung gestellt werden. Dabei wurde die Höhe der Kosten für das Budget so bemessen, dass alle bisher individuell festgestellten Kosten der Sachleistung nicht überschritten wurden, die ohne das Persönliche Budget zu erbringen waren. Alle Kostenträger waren sich damals einig, dass auch im Arbeitgebermodell natürlich neben den reinen Lohnkosten auch sonstige Kosten für Bürobedarf, Versicherungen (zum Beispiel Rechtschutz), Fortbildungen, Stellenakquise, Buchhaltung, gegebenenfalls. auch Verwaltung und Telefon entstehen.
kobinet-nachrichten: Was wäre nötig, damit Budgetnutzer*innen denjenigen gleichgestellt werden, die ihre Assistenz bei einem Dienst einkaufen?
Fabian Lerbs: Um Budgetnutzer*innen in die Lage zu versetzen, ihre Hilfen im Arbeitgeber*innen-Modell wettbewerbsfähig zu organisieren, ist es entscheidend, dass sie mit den erforderlichen Ressourcen ausgestattet werden. Dies beinhaltet zunächst einen angemessenen Kostensatz, mit dem sie ihre persönlichen Assistent*innen angemessen entlohnen können. Zusätzlich müssen die behinderten Arbeitgeber*innen die Möglichkeit haben, eine bedarfsweise nötigte Budgetbegleitung zu erhalten, wenn sie eigenständig die komplexen Anforderungen an die Arbeitgeber*innen-Rolle nicht ohne Unterstützung ausüben können. Dadurch können Budgetnutzer*innen dann die erforderlichen Dienstleistungen einkaufen und ihre Rolle als Arbeitgeber*innen souverän erlernen und vielleicht auch später eigenständig ohne Budgetbegleitung ausüben.
Dieser Beschluss vom 8.9.2023 ist als positives Signal zu werten, da er diese Bedürfnisse anerkennt und eine Orientierung an Tariflöhnen akzeptiert.
kobinet-nachrichten: Gibt es abschließend noch etwas Besonderes zu erwähnen?
Uwe Frevert: Ich zitiere hier nur aus dem Beschluss vom 8.9.2023: „Es ist von erheblicher Relevanz für Budgetnehmer*innen im Arbeitgebermodell gerade mit dauerhaften Einschränkungen, nicht regelmäßig mit Auslaufen befristeter Bewilligungen formal vor dem ‚Nichts‘ zu stehen und darauf warten und hoffen zu müssen, dass trotz unveränderter Umstände früher oder später, ggf. auch erst nach Ablauf der Befristung eine neue Entscheidung des LWV Hessen erfolgt.“
Dies betrifft beispielsweise auch die Rücklagenbildung, welche der LWV nur in Höhe von 60 Prozent eines Monatsbudgets gewähren will. In unserer Musterzielvereinbarung wurden 150 Prozent festgelegt. Dies schon allein deshalb, weil ein Monat zwischen 20 und 22 Arbeitstage hat und der Mindesturlaubsanspruch 24 Tage umfasst. Das heißt, die behinderte Arbeitgeber*in muss mindestens für einen Monat eine Lohnfortzahlung für den Urlaubsfall kalkulieren und nicht nur 60 Prozent eines Monats.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.
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